Aktualisiert: 30. Sept. 2021
„Alles fing damit an, dass meine Frau mir vor zwei Jahren zu Weihnachten eine Oculus Rift VR-Brille geschenkt hat“, erinnert sich Heiko Hartl lachend. Hartl ist Neurofeedback-Therapeut und managt außerdem die psychotherapeutische Praxis für Kinder und Jugendliche seiner Frau Annette Hartl in Wörth an der Donau. Zusammen mit Königspudel Henk bildet das Trio ein eingeschworenes Team – im Praxisalltag genauso wie privat.
Demo-Session mit Neurofeedback-Equipment und VR
Ersten Kontakt mit den Grundzügen von Biofeedback-Methoden hatte Hartl bereits vor 20 Jahren: als Soldat während einer Ausbildung in militärischem Nahkampf im Rahmen eines NATO-Einsatzes – mit dem Ziel, Atemtechniken zur körperlichen Entspannung einzusetzen. „Ich war bereits damals von der Methode zur Regulierung von Stress überzeugt, weil sie einfach und wissenschaftlich fundiert ist“, erinnert er sich. Jahre später zeigte sich, dass sich dieses Verfahren perfekt in die verhaltenstherapeutische Praxis seiner Frau Annette einbetten ließ: auch Kinder und Jugendliche profitieren nach Hartls Erfahrung sehr von Entspannungsübungen. Die Techniken dazu lassen sich in kürzester Zeit vermitteln und erlernen. Inzwischen ist Hartl nicht mehr Soldat, sondern selbst als Bio- und Neurofeedback-Therapeut tätig. Mit seinen Patienten trainiert er sowohl Entspannung als auch Aufmerksamkeit und Konzentration.
Gerade als er damit begann, sich mit seiner Virtual Reality-Brille zu beschäftigen, brachte sein Biofeedback-Softwareanbieter somaticvision ein VR-Add-On auf den Markt. “Das habe ich zum Einführungspreis getestet und fortan bei einigen Patienten im Biofeedback-Training eingesetzt“, erzählt Hartl. „Die Resonanz war durchweg äußerst positiv.“ So beschäftigte er sich weiter mit dem Thema VR. In der Folge brachte ihn die Lektüre des Buches „Klinische Cyberpsychologie und Cybertherapie“ und etwas Internetrecherche darauf, VR auch in der kinder- und jugendtherapeutischen Praxis seiner Frau bei Expositionen zum Einsatz zu bringen. Mitte 2018 setzten die beiden erstmalig 360°-Videos mit angstauslösenden Szenen ein.
VR-Brille und Elektroden zur Messung der Gehirnaktivität
Die Praxis von Annette und Heiko Hartl verfügt über eine Oculus Rift und eine Samsung Gear VR, die an einen PC angeschlossen werden, sowie eine Zeiss VR One Plus-Brille zur Nutzung in Kombination mit einem Smartphone aus dem Beta-Test-Programm von VirtuallyThere. Wer eine computergestützte VR-Brille nutzen möchte, muss nicht nur in die Brille selbst investieren, sondern auch in eine potente Grafikkarte und einen leistungsstarken PC. Hartl drückt es so aus: „Mit 08/15 Laptops bekommt man keinen Zugang zur virtuellen Realität.” Er betreibt die Oculus Rift und die Samsung Gear VR über einen leistungsstarken Gaming-PC. Der wird durch eine neue Generation von VR-Brillen aber wahrscheinlich bald überflüssig werden: sogenannte „stand-alone“ Brillen wie die Oculus Go vermitteln auch ohne PC-Verbindung ein starkes VR-Erlebnis. Hartl begrüßt diese Entwicklung: “Je unkomplizierter die Technik, umso mehr wird sie letztendlich euch eingesetzt werden.“ Für unseren Beta-Test mit rund 50 Verhaltenstherapeuten setzen wir bei VirtuallyThere deshalb auf VR-Brillen ohne eigenen Prozessor: in Brillen wie die Zeiss VR One Plus wird einfach ein Smartphone eingelegt. Zwei Linsen verwandeln die Display-Ansicht eines 360°-Videos in eine dreidimensionale, virtuelle Umgebung.
Nach Hartls Erfahrung ist Biofeedback ein gutes Hilfsmittel bei der Therapie von Angststörungen, weil es vorbereitend Entspannung trainiert. Beim Biofeedback werden Signale des Körpers, die direkt mit der Aktivität des peripheren Nervensystems zusammenhängen, gemessen und visuell (auf einem Bildschirm) oder akustisch (über Lautsprecher oder Kopfhörer) zurückgemeldet. Biofeedback zeigt also, wie der Körper auf Stress, Frust oder Freude durch Veränderung der Herzrate, der Hauttemperatur, der Pulsamplitude, der Schweißdrüsenaktivität oder den Grad der Anspannung von Muskeln reagiert. Mit etwas Training lassen sich diese Faktoren willentlich beeinflussen.
Auch beim Einsatz von VR in der Exposition setzen die Hartls diese Technik ein: „Wir starten meist mit einfachen Biofeedback- und vor allem Atemübungen. Als Zwischenziel soll der Patient einen gewissen Grad der Entspannung auch unter Ablenkung aufrecht erhalten können und auch schon ein paar Mal eine VR-Brille beim Biofeedback getragen haben. Erst dann beginnen die beiden mit den Expositions-Videos. Parallel überwachen sie die Biofeedback-Werte. Über akustisches Feedback an den Patienten können sie ihm Rückmeldung über diese Werte geben, zum Beispiel einen Erfolgston. Hartl erklärt: “So wird dem Patienten beispielsweise vermittelt: Du bist zwar gerade im Stress, weil Du mit XYZ konfrontiert bist. Aber Du hast im Vorfeld trainiert, Dich zu entspannen und Deine Hände beginnen nicht zu schwitzen. Dieser Ton bedeutet, dass deine Werte vollkommen in Ordnung sind.“
das technische Equipment der Hartls: VR-Brillen, Bio- und Neurofeedback-Messinstrumente
Die Hartls nutzen Biofeedback-Geräte von somaticvision, Neurobit und Brainmaster. Sie setzen bei ihren Trainings auch Neurofeedback ein, das auch als EEG-Biofeedback bezeichnet wird: hier wird über Messelektroden an der Kopfoberfläche ein EEG (Elektroenzephalogramm) abgeleitet. Die Gehirnaktivität wird gemessen, an einen Computer weitergeleitet und mithilfe einer Software in Frequenzbereiche aufgeteilt und analysiert. Durch das visuelle Feedback kann der Klient eine oder mehrere bestimmte Frequenzen seiner Gehirnaktivität trainieren, dargestellt durch eine Animation oder Filme auf dem Monitor. So lassen sich beispielsweise die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit trainieren oder schneller und einfacher in Entspannungsphasen finden. Gerne würden die Hartl auch ihr zertifiziertes Neurofeedback-Gerät in Kombination mit VR nutzen. „Aber der Hersteller unserer Neurofeedback-Spiele ist mit dem Thema seit Jahren in Entwicklung“, berichtet Heiko. „VR im Gehirnwellentraining ist kein Massenmarkt. Mit Biofeedback-Spielen für eine überschaubare Zahl von „VR-Therapeuten“ lässt sich sicher nicht so viel Geld verdienen wie mit normalen VR-Spielen“, stellt er fest.
„Allgemein betrachte ich es mit Sorge, dass der Großteil der aktuellen Entwicklung von VR-Therapie-Programmen den Therapeuten ausspart“, meint Hartl. Viele Angebote wendeten sich direkt an den Betroffenen und versprächen Erfolge, ohne eine „klassische“ Psychotherapie mit regelmäßigen Sitzungen durchführen zu müssen. „Das am 07.11.2019 verabschiedete Digitale-Versorgung-Gesetz, das den Einsatz von Gesundheits-Apps freigibt, wird meiner Einschätzung nach diese Entwicklung noch befeuern“, fügt er hinzu.
Der hauptsächliche Vorteil von VR in der therapeutischen Praxis besteht für die Hartls darin, überhaupt die Möglichkeit zu haben, mit angstauslösenden Situationen nach Bedarf arbeiten zu können. „Flugangst, Angst bei Gewitter oder Spritzenphobie – all das können wir und andere Therapeuten in der Regel nicht auf Knopfdruck in der Praxis bereit stellen“, sagt Hartl. Kein Therapeut könne sich einen Klein-Zoo mit Spinnen, Mäusen, Insekten, Schmetterlingen und dergleichen halten, oder jede zweite Sitzung den Patienten bei der Fahrt über die Autobahn begleiten. Für eine Referats-Situation eine Gruppe Leute einzuladen ginge schon aus Datenschutz-Gründen nicht. Simpel ausgedrückt: VR macht Expo einfacher. „Außerdem ist es mit VR einfacher, eine graduelle Steigerung der angstauslösenden Reize herbeizuführen oder eben einfach abzubrechen, wenn es dem Patienten zu viel wird“, erklärt Hartl. „Bei einem Panikanfall mitten im Fahrstuhl ist in der VR die Situation mit einem Klick beendet; in der Realität steckst Du da in dem Fahrstuhl.“
Die besten Erfahrungen haben die Hartls bisher mit Insektenphobien gemacht, konkret mit Schmetterlingen und Bienen. „Wir setzen VR hauptsächlich als Motivations-Booster für die Biofeedback-Atemübungen ein“, erzählt Hartl, „Nach dem Ansatz: entspanne Dich, dann klappt das auch mit VR.”
Patienten merkten und wüssten natürlich schon, dass das Gesehene “nicht echt” ist. Nach seiner Erfahrung können sich manche Patienten ganz gut von der virtuellen Szenerie abgrenzen. Hartl resümiert: „Mit VR-Exposition kann man sehr gut vorarbeiten und die Therapie einfacher und effizienter gestalten. Eine in-vivo Exposition ersetzt sie aber oft nicht.“